Feminismus heute – Wer braucht das, was soll das und wo soll es hinführen?

Sarah Wetzel und Lydia Dietrich im Gespräch über Geschlechterrollen und Frauenrechte. Ein Interview von Gudrun Lux.

Lydia, was bedeutet es für Dich, Feministin zu sein?

Lydia: Feministin zu sein bedeutet für mich, eine frauenpolitische Sichtweise einzunehmen, die darauf abzielt, eine absolute Gleichstellung zu erreichen – in jedem Punkt, in jedem Bereich, ohne Wenn und Aber.

Auch Du bist Feministin, Sarah …

Sarah: Ja, definitiv. Ich bin aus Überzeugung Queer-Feministin, das heißt: Es geht mir nicht nur um die Gleichstellung der Frau – die auch relevant ist –, sondern es geht auch darum, Sexualität und Identität mitzudenken.

Lydia, was hat denn die Frauenbewegung schon erreicht?

Lydia: Sehr viel. Es kommt darauf an, wie weit man zurückgeht, angefangen beim Frauenwahlrecht. In Sachen Gleichstellungspolitik hat sich auch in den vergangenen dreißig Jahren viel getan, ich nenne als Stichpunkte Frauen in Führungspositionen, generell im beruflichen Leben, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Insgesamt ist eine Aufmerksamkeit geschaffen worden dafür, dass Frauen ein eigenständiges Leben führen wollen und können. Das wird inzwischen ganz anders akzeptiert als vor 30 Jahren, als ich angefangen habe, politisch aktiv zu sein. Aber natürlich ist da noch eine Menge Luft nach oben.

Welche Punkte sind es denn für Dich, Sarah, die jetzt konkret angegangen werden müssen?

Sarah: Die Gleichstellung auf monetärer Ebene zum Beispiel – der Equal Pay Day fand auch dieses Jahr wieder im März statt. Frauen werden nach wie vor für gleichwertige Arbeit schlechter bezahlt. Ein Thema, das für mich wichtig ist, sind sexuelle Übergriffe. Die Verschärfung des Paragraphen 177 muss akut angegangen werden.

Wer ist denn in aller Regel Opfer sexueller Übergriffe?

Sarah: Opfer sind immer noch vor allem vermeintliche Minderheiten. Frauen, natürlich, die immer noch als das „schwache Geschlecht“ gelten. Die Übergriffe auf sie sind sexuell, aber auch verbal. Es geht aber natürlich weiter, insbesondere in Berlin hat sich eine große Dynamik der Aggression gegen schwule Männer entwickelt. Auch Migrant*innen sind häufig betroffen.

Lydia: Frauen sind keine „Minderheiten“! Ich mag diesen Begriff auch im Zusammenhang mit Lesben, Schwulen und transidenten Menschen nicht. Denn wenn man von „Minderheiten“ spricht, ist man schnell dabei, den Eindruck zu erwecken, dass für diese Gruppen Sonderrechte gefordert werden. Wir brauchen da mehr Selbstverständlichkeit von Rechten für alle. Übrigens sind in meiner Erfahrung Frauen auch gerade dann Opfer geworden, wenn sie sehr selbstbewusst auftreten und Rechte für sich in Anspruch nehmen. Das können Männer oft schwer akzeptieren. So werden auch Lesben oft Opfer, weil die für Männer gewohnte „Anbagger-Schiene“ nicht funktioniert – sie reagieren dann gerne aggressiv. Auch Frauen in Führungspositionen werden oft in einer Weise angegriffen, die Männer so nicht erleben.

Sarah: Natürlich geht es nicht um eine zahlenmäßig Minderheit, sondern um die Stigmatisierung eines Geschlechts.

„Minderheit“ also als Abgrenzung zur Dominanzgesellschaft?

Sarah: Genau. Und genau das gilt es zu berichtigen. Für mich gehört die Dekonstruktion von Geschlecht zu meinem feministischen Ansatz dazu und davon sind wir noch sehr weit entfernt.

Lydia, würdest Du denn sagen, Frauen sind die besseren Menschen?

Lydia: Die Frage kann ich schwer beantworten. Ich weiß nichts damit anzufangen …

Ich frage mal anders: Es gibt viele, die sagen, wir bräuchten mehr Frauen in Entscheidungspositionen, weil Frauen vorausschauender, teamfähiger, kreativer sind …

Lydia: Das ist definitiv so. Frauen sind in der Regel reflektierter. Sie überprüfen oft mehr, bevor sie entscheiden. Das wir ihnen auch oft vorgeworfen. Männer entscheiden schneller. Frauen sprechen sich ab, kommunizieren, lassen andere Meinungen in ihr Denken mit einfließen. Diese stärkere Kommunikation und Reflexion führt sicherlich dazu, dass sie, wenn sie in Führungspositionen sind, eher konsensorientiert sind. Das ist wichtig, macht ihnen aber auch Probleme. Ich halte es aber für den besseren Weg, es so zu machen.

Sarah: Frauen sind Menschen und Menschen sind alles mögliche, aber es gibt für mich nichts, was eine „typisch weibliche“ Eigenschaft ist. Das sind für mich Zuschreibungen, die durchaus der Sozialisation entsprechend wichtig sind. Derzeit ist es wahrscheinlich so, dass Frauen in der Tendenz sensibler oder kreativer sind. Aber ich bin definitiv nicht kreativ und ich bin manchmal sensibel und manchmal nicht. Ich bin definitiv der Meinung, dass mehr Frauen in Führungspositionen müssen, weil einfach 50 Prozent der Menschen Frauen sind. Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass wir das brauchen, weil Frauen dort neue Wege beschreiten können. Diese Differenzierung zwischen den Geschlechtern lehne ich aus voller Überzeugung ab, weil ich glaube, das ist ein Konstrukt.

Lydia: Es ist eine Vision zu sagen: Wir brauchen die Auflösung der sozialen Geschlechter. Aber wir haben nunmal einen Status Quo, der begründet sich auf Sozialisation. Wir haben de facto viele Lücken, wenn es um das Thema Gleichberechtigung und Gleichstellung geht. Ich muss anerkennen, dass das so ist, um einen Schritt nach dem anderen machen zu können.

Sarah: Da sind wir uns einig. Der Status Quo ist, dass es die Konstruktion von Geschlechtern, die Zuschreibungen und Tatsachen wie die Unterrepräsentation von Frauen in bestimmten Ämtern oder den Gender Pay Gap gibt. Mein Ansatz ist allerdings, die Differenzierung nicht zu manifestieren, sondern auf die Auflösung der sozialen Geschlechterrollen hinzuwirken.

Würdet Ihr also sagen, Männer und Frauen unterscheidet per se erstmal nichts?

Sarah: Ich schon. Das sind alles Menschen.

Lydia: Ich tu mich schwer damit aufgrund dessen, was ich für Erfahrungen haben. Rein in der Theorie hat Sarah vollkommen recht. Aber aus der Praxis heraus tue ich mich schwer, da ein klares „Ja“ zu sagen.

Was bedeutet denn dann das Mutter-Sein?

Sarah: Was ich auch nicht von der Hand weisen kann ist, dass es in der Regel Frauen sind, die Kinder bekommen. Es gibt ja auch Transidentitäten. Mutterschaft ist aber tatsächlich eines der Themen, weshalb die Debatte um die Dekonstruktruktion der Geschlechter schwierig ist. Spannend ist aber doch nicht die Frage, wer das Kind bekommt, sondern wie damit weiter umgegangen wird. Unlängst gab es die Debatte darüber, dass Frauen bereuen, ein Kind bekommen zu haben – Regretting motherhood. Die Debatte hat neue Wege aufgezeigt und die Frauen weggebracht von dieser gesellschaftlichen Zuschreibung, dass eine Mutter immer alles dafür tut, dass das Kind glücklich ist. Wir sind da von Gleichstellung noch unglaublich weit entfernt. Tatsächlich gleichberechtigte Beziehungen, in denen sich Mann und Frau gleichviel und gleichintensiv um ein Kind kümmern, sind echt selten. Nach wie vor ist es in der Regel so, dass der Mann arbeiten geht und die Frau zu Hause bleibt.

Lydia: Aus den Unterschieden kann man eben nicht ableiten, dass eine Frau, die dieses oder jenes nicht tut, eine „schlechte Mutter“ sei. Umgekehrt gibt es bei Männern andere Zuschreibungen. So wird angenommen, dass Fürsorge für Kinder nicht im gleichen Maße vorhanden sei, wie bei Müttern. Männer, die einen anderen Weg gehen und Verantwortung für Kinder übernehmen, sind häufig mit Vorurteilen, Abwertungen und Nachteilen im Arbeitsleben und im sozialen Umfeld konfrontiert. Da muss sich noch ganz viel tun. Die Stadt hat allerdings mit dem Ausbau von Betreuungsangeboten schon viel getan, damit Frauen und Männer Berufs- und Familienleben verbinden können.

Lydia, Du hast Dich dafür stark gemacht, dass weibliche Geflüchtete in München separat untergebracht werden. Warum?

Lydia: Wir wissen, dass geflüchtete Frauen häufig sexuelle Gewalt erlebt haben. In den Unterkünften sind besonders Frauen nicht geschützt, manche gehen nachts nicht zur Toilette aus realer oder gefühlter Gefahr vor Übergriffen. Deshalb brauchen sie einen Schutzraum und eine entsprechende Betreuung. Die Regierung von Oberbayern wollte das nicht, denn sie meinte, die Frauen müssten in den männerdominierten Unterkünften befriedend wirken. Im Januar wurde in der Rosenheimer Straße aber dann doch eine Unterkunft nur für Frauen eröffnet, darüber bin ich sehr froh.

Mit den Geflüchteten kommen diverse Kulturen hier her. Ist Feminismus eigentlich ein westlich-europäisches Konzept oder lässt es sich auf andere Kulturen übertragen?

Sarah: Frauenrechte sind Menschenrechte und Menschenrechte gelten universal. Es gibt durchaus einen „weißen Feminismus“, ich kann mich da nicht ausschließen. Ich werde als Frau und Lesbe doppelt diskriminiert, aber nicht dreifach als Frau, Lesbe und Nicht-Weiße. Ich beschäftige mich zur Zeit intensiv mit weltweit unterschiedlichen feministischen Strömungen, etwa dem „Womanismus“ schwarzer Frauen, der sich teilweise als Gegenbewegung zum als westlich empfundenen Feminismus versteht. Ich glaube aber grundsätzlich, dass wir Feministinnen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen sollten. Den westlichen Feminismus können wir nicht über alles stellen, auch nicht in der Diskussion um Geflüchtete.

Lydia: Ich nehme immer wieder teil an Weltkonferenzen zu Frauenrechten. Selten habe ich so viele Bürgermeisterinnen erlebt wie auf diesen Weltkonferenzen. Und die kommen aus afrikanischen Ländern, aus Indonesien, Indien – nicht aus Deutschland. Sie haben zum Teil andere Themen, beispielsweise ist die Gesundheitsvorsorge, insbesondere rund um Geburten, sehr wichtig und da erreichen diese Frauen sehr viel. Da ist eine Entwicklung in Gange, die vielleicht dazu führt, dass wir irgendwann merken, dass wir einiges nachzuholen haben.

Lydia Dietrich

Jahrgang 1960, ist seit 2002 grüne Stadträtin und seit 2006 Vorsitzende der Stadtratskommission zur Gleichstellung von Frauen. Sie hat als Krankenschwester und Mitarbeiterin bei Landtagsabgeordneten gearbeitet. Im Stadtrat vertritt sie uns im Ausschuss für Arbeit und Wirtschaft, im Gesundheitsausschuss und im Verwaltungs- und Personalausschuss.

Sarah Wetzel

Jahrgang 1986, ist seit 2013 Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Queer der bayerischen Grünen und seit 2016 Sprecherin der grünen Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Lesbenpolitik. Sie studierte Medientechnik, Politik und Soziologie und engagiert sich insbesondere im Bereich Queerpolitik, und Feminismus und konkret zu den Schwerpunkten Gesellschaft und Bildung.